(4 x Projektion mit je 80 Bildern)
Am Nachmittag des 7. Oktober 1985, einem Sonntag, gerade als die Militärparade zum 36. Jahrestag der Gründung der DDR über die Karl-Marx-Allee marschierte und live in unsere Ostberliner Wohnung übertragen wurde, nahm sich Christine, meine Frau und Mutter unseres Sohnes Komyo, das Leben. Sie war 32 Jahre alt.
Im August 1987 kehrte ich nach mehr als zweieinhalb Jahren Dolmetschta?tigkeit in Ostberlin nach Graz zurück. Noch einmal zwei Jahre später, im Mai 1989, wurde dort meine Einzelausstellung mit dem Titel Mémoires eröffnet. Für mich war diese Ausstellung die Gelegenheit, um meiner Trauer um Christine, die Selbstmord begangen hatte, Ausdruck zu verleihen und mir Klarheit über meine Gefühle zu verschaffen. Gleichzeitig sagte ich mir, dass ich nie die Bitterkeit ignorieren dürfte, die Christine nur die Entscheidung ließ, diese Welt zu verlassen. Die erste Ausgabe der Mémoires-Fotobücher, die seither mein Leben begleiten, wurde damals als Katalog zur gleichnamigen Ausstellung publiziert.
In den über 30 Jahren seit dieser Ausstellung habe ich Christines Fotografien wieder und wieder veröffentlicht. Jedes Mal habe ich alle Bilder nochmals durchgesehen.Parallel dazu gab ich bis 2010 unter dem Titel Mémoires insgesamt fünf Fotobände heraus. Es war ein Spiel mit der Ordnung der „Zeit“. Als ich die Bilder aufnahm, hatte ich mir keinerlei Gedanken über die Schwere der Zeitläufe gemacht, viele der entwickelten Filme lagen in unordentlichen Haufen herum. Kaum eins der Fotos hatte ich in der Absicht gemacht, etwas ausdrücken oder zeigen zu wollen.
Ich ahnte nicht, dass die Zeit so schnell vergehen und die Bilder des Familienalltags, der Landschaften und Reisen mein Leben so stark prägen würden. Ich hatte nicht die Angewohnheit, ein Tagebuch zu führen oder mir Notizen zu machen, ich notierte mir nur Termine in meinem Notizbuch. Ich war so sehr mit dem täglichen Leben beschäftigt, dass ich nicht die Muße hatte, die Zeit noch einmal Revue passieren zu lassen. Ich kann nicht klar zuordnen, in welcher Reihenfolge die Filme aufgenommen wurden. Anhand der wenigen Aufzeichnungen, die ich hatte, spielte ich mit der Ordnung der Zeit. Mit jeder neuen Zusammenstellung eines Mémoires-Buchs glaubte ich, den zeitlichen Fluss der Bilder richtigstellen zu müssen, um „das“ zu bekommen, wonach ich suchte.
Im Mai 2010, 21 Jahre nach der ersten Mémoires-Ausstellung, fand unter der Überschrift „Das letzte Mémoires“ eine weitere Ausstellung meiner Bilder in Tokyo statt. Fast gleichzeitig erschien eine Sammlung meiner Fotos mit dem Titel Mémoires. 1984-1987, die einen Schlusspunkt unter dieses Werk setzen sollte. Ich wollte damit abschließen. Ich war unruhig, denn ich fürchtete, keine Zeit mehr zu haben, um andere Arbeiten fertigzustellen. Tatsächlich aber war es nicht nur das letzte Mémoires, sondern plötzlich drohte mein eigenes Leben jäh ein Ende zu finden. Denn drei Wochen vor der Ausstellungseröffnung brach ich eines Abends gegen 22 Uhr ohne jede Vorwarnung zusammen. Ich hatte einen Schlaganfall erlitten und hätte um Haaresbreite nicht überlebt. Vier Monate verbrachte ich im Krankenhaus und in der Reha-Klinik, und es dauerte mindestens fünf weitere Jahre, bis ich wieder ganz genesen war.
Im Vorfeld der Einzelausstellung von 2010 hatte ich erklärt: „Einer der Gründe, warum ich diese Ausstellung Das letzte Mémoires nenne, ist, dass ich schließlich verstanden habe, dass ich auch nach wiederholten Versuchen noch immer keine Antwort auf meine Frage gefunden habe.“ Und während ich mich von den Folgen des Schlaganfalls erholte, beschloss ich, mich endlich von Christines Fotos und der Welt der Mémoires zu distanzieren.
2012 – es ging mir noch nicht sehr gut, und ich hatte mich von den beruflichen Aktivitäten zurückgezogen –, bekam ich eine Anfrage für eine Einzelausstellung. Vielleicht war meine schwere Krankheit, die ich gerade erst überwunden hatte, einer der Gründe, dass die Welt der Mémoires, von denen ich mich zu distanzieren suchte, tagelang wie ein „Strudel aus Erinnerungen“ in meinem Kopf herumwirbelte. Ich hatte das Gefühl, als würde mich die Flut der ungeordneten Bilder, die vor meinem inneren Auge auftauchten und wieder verschwanden, zermalmen. Fragen nach dem Wann, Wo, Was und Warum verfolgten mich, ich konnte mich nicht davon lösen. Auf der Suche nach einer Antwort kam mir auf einmal die Idee, die „Mémoires 2012“ als Diaprojektion zu konzipieren.
Ich wählte diese Methode, denn so konnte ich die Bilder meiner Vergangenheit ohne jede Ordnung präsentieren, so, wie sie in meinem Kopf herumschwirrten. Anstelle eines Beamers wähle ich den Kodak Carousel Projektor. Ich hatte das Gefühl, dass das Geräusch bei der Projektion der einzelnen Bilder ein wichtiges Element der Arbeit darstellen würde, da es mich an den Fluss der Zeit und das Chaos in meinem Kopf erinnerte. Mit vier Projektoren warf ich ungeordnet Bilder an die drei Wände des dunklen Raums. Ich hatte dafür jeweils 80 Fotos aus meinen Fotobüchern
„Mémoires“, „Mémoires 1995“, „Mémoires 1983“ und „Mémoires. 1984-87“ ausgewählt. Die vier Projektoren liefen parallel, doch in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Mit dem Klicken, das die Karusselle bei jedem Vorwärtsrucken begleitete, erzeugten die alle paar Sekunden aufscheinenden und wieder verschwindenden Bilder eine ganz eigene Furuya-Erinnerungswelt. Schon bald überkam die Betrachter, die eigentlich das Werk eines Künstlers erlebten, das Gefühl, ihrer eigenen Erinnerungswelt zuzusehen.
Die Installation „Mémoires“ besteht aus vier Diaprojektionen. Jede Projektion zeigt eine Auswahl von Bildern aus den folgenden Publikationen von Seiichi Furuya:
1. Mémoires, mit Texten von Monika Faber, Werner Fenz, Christine Frisinghelli und Wilfried Skreiner, Edition Camera Austria/Neue Galerie am Landesmuseum Joaneum, Graz, 1989
2. Mémoires 1995, mit Texten von Urs Stahel und Toshiharu Ito, Scalo, Zürich, 1995
3. Mémoires 1983, mit Texten von Christine Furuya-Gössler, Akaaka, Kyoto, 2006
4. Mémoires. 1984-1987, mit einem Text von Einar Schleef, Izu Photo Museum/Camera Austria, Mishima/Graz, 2010
Ausstellung
Installation video >>> vimeo password: furuya
4 x Diainstallation: Detail (Beispiel: Hamburger Kunsthalle, 2020)
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